Das Menschenbild des Beraters macht den Unterschied

Selbst mit einem Handwerkskasten voll mit guten Methoden, die im Gespräch gekonnt eingesetzt werden, bleibt Beratung ohne Rückgrat nur „Sozialtechnik“ und nimmt den Menschen, der mir gegenüber sitzt, nicht ernst.
von Hans-Peter Kröpelin

„Angenommen, nur mal angenommen, du hast all dein Wissen und deine Fähigkeiten als systemischer Berater genutzt, wie ist dein Coaching in der konkreten Situation dann gelaufen?“ Auf einmal war Ruhe im Raum. Mein Gegenüber schaut mich fragend an. Gerade hat er von einer Beratungssituation berichtet, in der er all die Dinge angewandt hat, die er in der Ausbildung gelernt hat. Selbst die „Wunderfrage“ hat er gestellt. Und das Ergebnis am Ende der Beratung passte genau zu dem, was er sich vorgestellt hatte. Also, was will der Trainer? Auch einige andere aus der Gruppe sind am Nachdenken.

Um es kurz zu machen: ich will auf die „Haltung“ des Beraters hinaus, auf sein „Menschenbild“. Dieses Menschenbild wirkt in der Beratung wie ein „Rückgrat“ und stützt den Berater und die Beziehung zu seinem Kunden. Selbst mit einem Handwerkskasten voll mit guten Methoden, die im Gespräch gekonnt eingesetzt werden, bleibt Beratung ohne Rückgrat nur „Sozialtechnik“ und nimmt den Menschen, der mir gegenüber sitzt, nicht ernst. Bewusst wird es so vielleicht nicht praktiziert, schon gar nicht von einem Berater in Ausbildung. Dennoch entspricht das nicht einem partnerschaftlichen Gespräch, sondern zementiert eine Hierarchie in der Beratung. Ein oben und unten. Ich, der Berater, weiß wo es lang geht und du, der Kunde, weißt es nicht. Das entspricht in keiner Weise der Haltung der systemischen Beratung. Systemische Beratung legt Partnerschaft und Offenheit im Beratungsprozess zugrunde.

Jedes Beratungskonzept basiert auf einem bestimmten „Menschenbild“. Dadurch lässt es sich auch von anderen abgrenzen. Das „Menschenbild“ wiederum ist geprägt durch
  • ein System von „Schlüsselbegriffen“, d.h. durch das jeweilige Erklärungsmodell, mit dem menschliches Verhalten gedeutet und erklärt wird,
  • bestimmte zentrale Grundannahmen, man könnte hier auch von Werten sprechen, die unser Handeln leiten und die Vorgehensweise begründen.
Im Alltag ist es uns häufig nicht bewusst, dass wir unserem Handeln so etwas wie ein Menschenbild zugrunde legen. Wir denken darüber auch nicht permanent nach. Aber wenn z. B. eine Führungskraft mit Hilfe von Incentives oder monetären Leistungsanreizen einen Mitarbeiter von außen zu verändern sucht, legt sie dabei das Menschenbild des Behaviorismus mit seinen „Schlüsselbegriffen“ wie Maschine, Reiz und Reaktion zugrunde. Unabhängig davon, ob es ihr bewusst ist oder nicht.
Natürlich hat auch die systemische Beratung ihre „Schlüsselbegriffe“ wie zum Beispiel „System“, „Differenzierung von System und Umwelt“, „Zirkularität“ und „Regelkreis“ oder „Verhaltens-/Kommunikationsmuster“ und „Hypothesenbildung“ oder „Entwicklung“. Dieses Begriffssystem ermöglicht
  • die Beschreibung sozialer Abläufe, wobei die Aufmerksamkeit nicht nur auf die einzelne Person, sondern auf das Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren eines sozialen Systems gelenkt wird,
  • die Erklärung sozialer Situationen aus unterschiedlichen Blickwinkeln
  • die Definition eines Rahmens möglicher Interventionen.
Darüber hinaus ist die systemische Beratung durch die zentrale Grundannahme der Autonomie geprägt. Die Autonomie des Willens ist die Fähigkeit des Menschen, selbst entscheiden zu können. Damit eng verbunden ist dann natürlich die Idee der „Selbstverantwortung“ – im Sinne von: für sich und sein Tun oder Lassen selbst die Verantwortung zu übernehmen und dadurch auch unabhängig und selbstständig werden. Allerdings kann die systemische Beratung diesen Wert nicht für sich allein beanspruchen, sondern teilt dieses Bestreben mit anderen Schulen und Beratungsstilen. Man kann sagen, dass es ein Grundbegriff der sogenannten humanistischen Psychologie ist. Während dort Autonomie vor allem auf den Einzelnen bezogen ist, wird sie in der systemischen Denkweise auf das gesamte soziale System ausgeweitet, also auf
  • die Autonomie des Kunden
  • die Autonomie des Beraters
  • die Autonomie des sozialen Systems.
Wenn es in der Beratungssituation zu „Autonomiekonkurrenzen“ kommt, setzt der Berater sich damit auseinander und es wird ein Konsens in Form eines gemeinsam getragenen Beratungsauftrages gesucht. Erst wenn dieser Arbeitsauftrag klar formuliert ist, beginnt die Beratung bzw. wird sie fortgesetzt.
Die zweite zentrale Grundannahme ist die „Kompetenzhypothese“. Das bedeutet, dass jeder Mensch grundsätzlich die Fähigkeiten hat, seine Probleme zu lösen. Allerdings ist er mit diesen Fähigkeiten nicht immer im Kontakt. Manchmal sind sie etwas verschüttet.
Das bringt uns zur dritten Grundannahme, der „Ressourcenorientierung“. Systemische Beratung ist in erster Linie eine kommunikative Beratung. Unsere Interventionen sind Fokussierungen von Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit lenken wir in Richtung Lösungen und Ressourcen/Fähigkeiten und nicht in Richtung Problem und Defizite.
Ausgehend vom Menschenbild, dem Fundament der systemischen Beratung sind auch die vielen guten Methoden und Interventionen kein „Hexenwerk“, sondern sehr nachvollziehbar. Es gehört auch zum partnerschaftlichen, offenen Umgang mit dem Kunden, dass der Berater bei Bedarf seine Vorgehensweise und seine Interventionen in Frage stellen lässt und sie dem Kunden erläutert. Es gibt nichts Nützlicheres als Kunden, die nicht nur kompetent für ihre Problemlösungen sind, sondern auch kompetent im Beratungsprozess. Der Kunde als Co-Berater. Gutes Gelingen.